Ein begleitender Text zur Ausstellung von
Catherina Cramer und
Giulietta Ockenfuß von
Philipp Lange,
Paris, 14. Oktober 2022
Gemäß der biblischen Erzählung von den zehn Plagen regnete es einst Heuschrecken, während das Land von abertausenden Fröschen heimgesucht wurde und Stechmücken massenhaft Mensch und Nutztier befielen. Diese Geschehnisse, durch Gotteshand in die Wege geleitet, zwangen den ägyptischen Pharao dazu, ein ganzes Volk aus der Sklaverei zu befreien. Als Schwarm verbündet, ging von den beteiligten Tieren eine Gefahr aus, die den anderen Katastrophen gleichgestellt war – tagelange Finsternis oder in Blut verwandeltes Gewässer.
Catherina Cramer & Giulietta Ockenfuß beschwören in ihrer Ausstellung
Hex for the Swarm diese Macht der Tiere. Zähnefletschend blicken uns Raubkatzen entgegen, Greifvögel fahren ihre Fänge aus. Reptilien, denen sich der Mensch ungerne nähert, begeben sich in kämpferische Haltung. Ein Bild nach dem anderen wurde von den Künstlerinnen zu einer Slideshow zusammengefügt. Auf den ersten Blick könnte es sich um eine Wildlife-Reportage mit spektakulären Fotos handeln. Doch die zu sehenden Tiere bestimmen offenbar selbst über das Tempo, den Rhythmus und die Reihenfolge der Bilder. Sie drängen die Betrachtenden in die Rolle der Beherrschten.
Hex for the Swarm präsentiert sich als Vorbote einer unbequemen Nachricht: Ein Aufstand der Tiere naht.
Es ist ein eigener Kosmos, den die beiden Künstlerinnen in ihrer fortdauernden Kollaboration erschaffen haben. Dabei mangelt es nicht an subversiv eingewobenen Referenzen. In der gemeinsamen Praxis bedienen sie sich an Elementen aus Literatur und Theorie, Underground und Pop-Kultur.
Hex for the Swarm baut unmittelbar auf der Filmtrilogie
Unleash the Beast (seit 2020) auf. Während die Künstlerinnen darin in die Rollen von fantastischen und emanzipierten Wasserwesen schlüpfen, hält sich ihre physische Präsenz in der jetzigen Ausstellung zurück. Die Tier-Projektionen dominieren den Raum und rufen dabei eine unbehagliche Atmosphäre hervor.
Dafür werden Zaubertricks angewendet, wie der Ausstellungstitel verrät. Cramer & Ockenfuß sind somit als Verbündete der animalischen Wesen zu verstehen – oder als
Companions, wenn es nach Donna Haraway geht. Die Theoretikerin analysiert in ihrem 2003 publizierten Manifest das Zusammenleben von Mensch und Tier als eine Geschichte der „Koevolution und verkörperten, speziesübergreifenden Sozialität”.
1 Die Künstlerinnen beziehen sich lose auf das Thema. Visuell, textbasiert, auditiv – sie verwandeln die Räumlichkeit des Mouches Volantes in eine multimediale Landschaft.
Ein Klangteppich aus rebellischem Techno-Trance breitet sich darin aus und erzeugt einen hypnotischen Sog. Die Soundarbeit ist von der Musikerin Swan Meat, bekannt für ihre eklektischen DJ-Sets, eigens für die Ausstellung produziert worden. Auf bedrohliche Weise mixen sich rezitierte Textfragmente in das Stück. Dabei handelt es sich um Auszüge aus Die
Gesänge des Maldoror (1874) von Comte de Lautréamont. Dieses Werk des 1846 in Montevideo, Uruguay geborenen und 1870 in Paris verstorbenen Dichters übte einen maßgeblichen Einfluss auf die späteren Surrealist*innen aus. Sie betrachteten Lautréamont als einen Propheten, der die Konventionen der Literatur zu sprengen wusste.
In den sechs Gesangstrophen schuf er eine Bilderwelt infernalischer Grausamkeit, verkörpert in der Figur seines Anti-Helden Maldoror (von frz. „Aurore du Mal” – „Dämmerung des Bösen”). Auffällig ist die metaphorische Einbindung zahlreicher Tierarten. Ihr machtvolles Gewaltpotenzial dient dem Dichter zur Beschreibung der Gräueltaten, die sein Protagonist begeht. Eine der sechs Strophen ist wiederum dem Ozean gewidmet, indem sie die für den Menschen unbezwingbaren Wassermassen verherrlicht. Gleichwohl wird dessen Bedürfnis deutlich, die Natur zu beherrschen – ein Verlangen, das zu Lautréamonts Lebzeiten sichtbar neue Ausmaße in Europa annahm.
Da wäre zum Beispiel
Hagenbecks Tierpark zu nennen, dessen koloniale Vergangenheit die Künstlerinnen bereits in früheren Arbeiten beschäftigte. In dem Hamburger Zoo wurde unter der Direktion von Carl Hagenbeck in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue Inszenierungsform für die Betrachtung der lebendigen Exponate entwickelt: die Panoramaansicht. Anstelle von Gitterstäben sollte der Eindruck erweckt werden, als wären diese in ihren traditionellen Fanggebieten anzutreffen. Daneben zeichneten neuartige Souvenir-Produkte ein exotisches Bild von fernen Weltregionen und der vermeintlichen Primitivität ihrer menschlichen Bewohner*innen, die neben den Tieren ebenfalls zur Schau gestellt waren. Hagenbeck schien die „Wildnis” der Welt zu beherrschen. Der Ozean für ihn ein Transportweg für lukrative Ware.
Heute werden die Hagenbeck’schen Werbemittel aus der Kaiserzeit als Sammelobjekte gehandelt. In einer Reihe an Leinwandarbeiten integrieren Cramer & Ockenfuß originale Postkarten aus dem damaligen Zoo zwischen vergilbte Schnipsel anderen Ursprungs. Die historischen Elemente sind auf den Collagen von Lackschichten überzogen oder von Stickern überbeklebt, als hingen sie seit Jahren irgendwo im Stadtraum. Die Sepia-Verfärbung verweist auf die früheren Zeiten, oder besser: auf das angetrocknete Blut. Im Spannungsfeld zwischen kollektiver Geschichtsamnesie und Momenten von Nostalgie tauchen Cramer & Ockenfuß ihre Ausstellung in eine braungelbe Tönung und schicken das Publikum damit auf eine rätselhafte Reise in die gestrige Ferne. Dabei schafft die farbgebende Folie an der Fensterfront des Mouches Volantes eine beklemmende Kombination aus Exponiertheit, Schutz, Beobachtung und Unwissenheit.
Der Lyriker Rainer Maria Rilke gehörte während der Kolonialzeit zu den regelmäßigen Besucher*innen der Zoos europäischer Machtzentren. Er beobachtete das Leiden eines Panthers in Gefangenschaft und widmete ihm ein Gedicht. „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe; und hinter tausend Stäben keine Welt.”, heißt es darin. Interpretationen besagen, dass Rilke nur sein eigenes Elend in der Raubkatze gespiegelt sah. Tatsächlich belegen psychologische Studien, dass die Mimik von Tieren beim Menschen eine Identifikation evoziert. Laut Haraway liegt hierin zwar ein Schlüssel für das bessere Verständnis von Mensch und Nicht-Mensch, doch die Rache der Tiere ist bereits heraufbeschworen. Hex4TheSw@rm
1Donna Haraway: Das Manifest für Gefährten, Wenn Spezies sich begegnen – Hunde, Menschen und signifikante Andersartigkeit, Merve, Berlin 2016, S. 10.
Literatur
Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, 2003
Comte de Lautréamont: Les Chants de Maldoror, 1874.
Heiner Maria Rilke: Der Panther, aus: Neue Gedichte, 1907.
english
An accompanying text to the exhibition by
Catherina Cramer &
Giulietta Ockenfuß by
Philipp Lange, Paris October 14, 2022
According to the biblical story of the ten plagues, it once rained locusts, while the land was infested by thousands and thousands of frogs, and mosquitoes attacked man and farm animals en masse. These events, set in motion by the hand of God, forced the Egyptian Pharaoh to free an entire people from slavery. Allied as a swarm, the animals involved posed a danger on par with other disasters - darkness for days or waters turned to blood.
Catherina Cramer & Giulietta Ockenfuß evoke this power of animals in their exhibition
Hex for the Swarm. Snarling cats of prey look at us, birds of prey extend their fangs. Reptiles, which humans are reluctant to approach, assume a fighting posture. One image after the other was put together by the artists to form a slideshow. At first glance, it could be a wildlife reportage with spectacular photos. But the animals on view apparently determine the tempo, rhythm and sequence of the images themselves. They force the viewer into the role of the dominated.
Hex for the Swarm presents itself as a harbinger of an uncomfortable message: an uprising of the animals is approaching.
It is a cosmos of its own that the two artists have created in their ongoing collaboration. There is no lack of subversively woven references. In their joint practice, they draw on elements from literature and theory, underground and pop culture.
Hex for the Swarm builds directly on the film trilogy
Unleash the Beast (since 2020). While in it the artists take on the roles of fantastic and emancipated aquatic creatures, their physical presence is restrained in the current exhibition. The animal projections dominate the space, evoking an uneasy atmosphere.
Magic tricks are used to achieve this, as the exhibition title reveals. Cramer & Ockenfuß are thus to be understood as allies of animal beings - or
companions, if Donna Haraway has her way. In her manifesto published in 2003, the theorist analyzes the coexistence of humans and animals as a story of "coevolution and embodied, interspecies sociality.”.
1 The artists loosely relate to the theme. Visual, text-based, auditory - they transform the spatiality of mouches volantes into a multimedia landscape.
A soundscape of rebellious techno-trance spreads out in it and creates a hypnotic undertow. The soundtrack was produced especially for the exhibition by the musician Swan Meat, known for her eclectic DJ sets. Recited text fragments mix ominously into the piece. These are excerpts from
The Songs of Maldoror (1874) by Comte de Lautréamont. This work by the poet, who was born in Montevideo, Uruguay in 1846 and died in Paris in 1870, exerted a significant influence on the later Surrealists. They regarded Lautréamont as a prophet who knew how to break with the conventions of literature.
In the six stanzas of the song, he created an imagery of infernal cruelty, embodied in the figure of his anti-hero Maldoror (from the French "Aurore du Mal" - "Dawn of Evil"). The metaphorical integration of numerous animal species is striking. Their powerful potential for violence serves the poet to describe the atrocities committed by his protagonist. One of the six stanzas is again dedicated to the ocean, glorifying the masses of water that are indomitable for man. Nevertheless, the latter's need to dominate nature becomes clear - a desire that visibly took on new proportions in Europe during Lautréamont's lifetime.
One example is
Tierpark Hagenbeck, whose colonial past already preoccupied the artists in earlier works. In the Hamburg zoo, under the direction of Carl Hagenbeck, a new form of scenography for viewing the living exhibits was developed in the second half of the 19th century: the panoramic view. Instead of bars, the aim was to create the impression that the animals were in their traditional haunts. In addition, novel souvenir products painted an exotic picture of distant regions of the world and the supposed primitiveness of their human inhabitants, who were also on display alongside the animals. Hagenbeck seemed to have mastered the "wilderness" of the world. The ocean for him a transport route for lucrative goods.
Today, Hagenbeck's advertising materials from the imperial era are traded as collector's items. In a series of canvas works, Cramer & Ockenfuß integrate original postcards from the zoo at the time between yellowed snippets of other origins. On the collages, the historical elements are covered by layers of varnish or pasted over by stickers, as if they had been hanging somewhere in the urban space for years. The sepia discoloration refers to the earlier times, or better: to the dried blood. In the field of tension between collective historical amnesia and moments of nostalgia, Cramer & Ockenfuß immerse their exhibition in a brownish-yellow hue, thus sending the audience on an enigmatic journey into yesterday's distance. In doing so, the color-giving foil on the window front of the Mouches Volantes creates an oppressive combination of exposure, protection, observation, and ignorance.
The poet Rainer Maria Rilke was one of the regular visitors to the zoos of European centers of power during the colonial era. He observed the suffering of a panther in captivity and dedicated a poem to it. "To him it is as if there were a thousand bars; and behind a thousand bars no world," it says. Interpretations say that Rilke saw only his own misery reflected in the predatory cat. In fact, psychological studies prove that the facial expressions of animals evoke identification in humans. According to Haraway, while this is a key to better understanding humans and non-humans relation, the revenge of the animals has already been evoked. Hex4TheSw@rm
1 Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Merve, Berlin 2016, p. 10. (German version)
Literature
Donna Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, 2003
Comte de Lautréamont: Les Chants de Maldoror, 1874.
Heiner Maria Rilke: Der Panther, from: Neue Gedichte, 1907.
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